Ein Stück Geschichte, Anja pur
Bis zu meinem 23. Lebensjahr lebte ich in meiner Geburtsstadt Rheda-Wiedenbrück. 1996 machte ich in Wiedenbrück am Ratsgymnasium mein Abitur, Durchschnittsnote 2,0. Im selben Jahr begann meine Ausbildung zur Verlagskauffrau bei der Bertelsmann AG in Gütersloh. Zum Ende meiner Ausbildung startete ich am 01.01.1999 als Anzeigenverkäuferin in einem Fachzeitschriftenverlag in München. Am 01.07. endete meine Probezeit.
Einen Monat später - am 01.08.1999 - war ich mit dem Rad auf dem Weg zu einem Badesee (Feringasee) in München. In einem Gebiet, wo per Hinweisschild auf die Schleudergefahr hingewiesen wird, fuhr ein Auto statt erlaubter 60 km/h mit überhöhter Geschwindigkeit (130-160 km/h) in die gleiche Fahrtrichtung, geriet ins Schleudern und schleuderte über die Gegenfahrbahn und den angrenzenden Grünstreifen auf den Radweg. Es erfasste mich mit 70 km/h.
Soweit ist es im Polizeibericht festgehalten. Erinnern kann ich mich nicht, weder an den Tag noch an die folgenden 30 Tage. Ich wurde mit dem Krankenwagen ins städtische Krankenhaus Bogenhausen gebracht, wo sie als erstes den Bruch meines rechten Oberschenkels mit einem ca. 30 cm-langen Titan-Nagel versorgten. Die übrigen Brüche (Schädel-Basis-Bruch mit Schädel-Hirn-Trauma, Stirnhöhlen- und Oberkiefer-Bruch, Schulterblattbruch rechts, drei Wirbel-Brüche, zwei Rippenfrakturen) wurden nicht weiter behandelt, fürs Erste. In der Nacht mussten sie allerdings meine Schädeldecke aufmachen, um ein subdurales Hämatom zwischen Gehirn und Schädeldecke zu entfernen. Ich wurde für ungefähr zwei Wochen in ein künstliches Koma versetzt und künstlich beatmet. Die Beatmung lähmte meine Stimmbänder und verletzte meinen Glutti-Schluss, so dass ich danach erst nur flüstern konnte und nicht trinken durfte, weil ich Flüssigkeit in die Lunge geschluckt habe.
Wie schon erwähnt, kann ich mich an die ersten 30 Tage nach dem Unfall nur Bruchstückhaft erinnern, weswegen ich auch keine Erinnerung an Schmerzen habe. Ich weiß viele Dinge nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die sofort aus meiner Heimatstadt Rheda-Wiedenbrück angereist waren und sich abwechselnd bei mir in München aufgehalten haben. So wurde mir berichtet, dass ich nicht einsehen wollte, dass ich nicht laufen kann. Ich habe ständig versucht zu „fliehen“, bin über das Schutzgitter meines Bettes geklettert und wollte gehen. Bei diesen Versuchen habe ich mich ein ums andere Mal auf die Nase gelegt und jedes Mal lauthals geflucht, warum die anwesende Person (meine Betreuung wurde zwischen meinen Eltern, meinem Bruder, der besten Freundin, dem Freund aufgeteilt, so dass jeder auch mal Zeit für Entspannung hatte) mir nicht hilft.
Der Rollstuhl stand immer neben meinem Bett und sobald ich ins Bad oder aus dem Zimmer wollte, musste mir hinein geholfen werden. Ich habe diesen Rollstuhl gehasst und mich geweigert, zu lernen, wie ich selber damit fahren kann. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nahezu täglich Krankengymnastik. Diese Stunden waren mir von allen Reha-Stunden die liebsten, weil ich wie verrückt trainiert habe, um bald wieder selber gehen zu können. Das Schädel-Hirn-Trauma verursachte unter anderem immense Wortfindungsstörungen und hatte nahezu mein gesamtes Mathe-Gedächtnis ausgelöscht. Ich hatte mit 23 Jahren das kleine Einmaleins und die einfachsten Rechen-Operationen neu zu erlernen.
Außerdem sah ich partout nicht ein, warum ich im Krankenhaus bleiben musste, weil ich mich doch schon wieder ganz gesund fühlte. Und laufen konnte ich auch daheim lernen, genau wie rechnen und ohne Wortfindungsstörungen sprechen. Da der Teil meines Gehirns, der die Emotionen beherbergt, beim Unfall zerstört wurde, konnte ich lange Zeit nichts empfinden. Es war mir ganz egal, wo ich war, warum ich da war und wer dabei war. Hauptsache, es war jemand bei mir, den ich kannte. Lebendige Freude und echte Trauer brauchten nahezu zwei Jahre, um wieder aktiviert zu werden. Weinen konnte ich bis Anfang 2004 nicht. Aber auch jetzt noch sind die Grenzen, bis Tränen kullern, viel weiter gesteckt als noch vor dem Unfall. Ich suchte mir andere Ventile für emotionale Erlebnisse, wurde in Situationen, in denen ich normalerweise geweint hätte, furchtbar aggressiv. Aber noch befand ich mich in den Händen der Ärzten.
Am 31. August 1999 feierte ich meinen 23. Geburtstag und zur Feier des Tages durften meine Eltern mich mit Rollstuhl für ein paar Stunden mit in meine Münchner Wohnung nehmen. Mir wurde klar, wie dringend es war, wieder laufen zu können, da ich ansonsten wieder nach Rheda-Wiedenbrück in die rollstuhlgerechte Wohnung meiner Mutter hätte ziehen müssen. Die Ärzte hatten die ersten 2,5 Wochen sowieso gemeint, es sei durchaus wahrscheinlich, dass ich sowohl geistig als auch körperlich behindert bleiben würde. Nach gut einem Monat konnte ich endlich wieder laufen, allerdings benötigte ich anfangs noch Krücken und für mittlerweile erlaubte Spaziergänge eine Gehhilfe in Form eines Rollators (das ist dieses Gerät, das alte Damen vor sich herschieben). Es war mir unglaublich unangenehm, als meine Mutter, mein Freund und ich eines Tages für ein paar Stunden aus dem Krankenhaus raus durften und im Ostpark spazieren gingen. Ich musste dieses Oma-Gerät vor mir herschieben und dabei war ich doch noch sooo jung....
Derweil trainierte eine Ergotherapeutin täglich mit mir alle möglichen Dinge, die mir die Rückkehr in die normale Welt ermöglichen sollten. Als nach fünf, sechs Wochen klar war, dass eine stationäre Behandlung bald nicht mehr nötig sein würde, da ich sowohl wieder einigermaßen selbständig gehen konnte als auch den Anschein machte, in der Wohnung, die ich mir mit meinem Freund teilte, klar zu kommen, unternahm sie mit mir zwei Exkursionen zu meiner Wohnung. Dabei achtete sie auf mein Verhalten im Straßenverkehr und mein Orientierungsbewusstsein. Endlich kam der Tag, an dem ich heim durfte. Es gab allerdings einige Voraussetzungen:
Einen Monat später - am 01.08.1999 - war ich mit dem Rad auf dem Weg zu einem Badesee (Feringasee) in München. In einem Gebiet, wo per Hinweisschild auf die Schleudergefahr hingewiesen wird, fuhr ein Auto statt erlaubter 60 km/h mit überhöhter Geschwindigkeit (130-160 km/h) in die gleiche Fahrtrichtung, geriet ins Schleudern und schleuderte über die Gegenfahrbahn und den angrenzenden Grünstreifen auf den Radweg. Es erfasste mich mit 70 km/h.
Soweit ist es im Polizeibericht festgehalten. Erinnern kann ich mich nicht, weder an den Tag noch an die folgenden 30 Tage. Ich wurde mit dem Krankenwagen ins städtische Krankenhaus Bogenhausen gebracht, wo sie als erstes den Bruch meines rechten Oberschenkels mit einem ca. 30 cm-langen Titan-Nagel versorgten. Die übrigen Brüche (Schädel-Basis-Bruch mit Schädel-Hirn-Trauma, Stirnhöhlen- und Oberkiefer-Bruch, Schulterblattbruch rechts, drei Wirbel-Brüche, zwei Rippenfrakturen) wurden nicht weiter behandelt, fürs Erste. In der Nacht mussten sie allerdings meine Schädeldecke aufmachen, um ein subdurales Hämatom zwischen Gehirn und Schädeldecke zu entfernen. Ich wurde für ungefähr zwei Wochen in ein künstliches Koma versetzt und künstlich beatmet. Die Beatmung lähmte meine Stimmbänder und verletzte meinen Glutti-Schluss, so dass ich danach erst nur flüstern konnte und nicht trinken durfte, weil ich Flüssigkeit in die Lunge geschluckt habe.
Wie schon erwähnt, kann ich mich an die ersten 30 Tage nach dem Unfall nur Bruchstückhaft erinnern, weswegen ich auch keine Erinnerung an Schmerzen habe. Ich weiß viele Dinge nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die sofort aus meiner Heimatstadt Rheda-Wiedenbrück angereist waren und sich abwechselnd bei mir in München aufgehalten haben. So wurde mir berichtet, dass ich nicht einsehen wollte, dass ich nicht laufen kann. Ich habe ständig versucht zu „fliehen“, bin über das Schutzgitter meines Bettes geklettert und wollte gehen. Bei diesen Versuchen habe ich mich ein ums andere Mal auf die Nase gelegt und jedes Mal lauthals geflucht, warum die anwesende Person (meine Betreuung wurde zwischen meinen Eltern, meinem Bruder, der besten Freundin, dem Freund aufgeteilt, so dass jeder auch mal Zeit für Entspannung hatte) mir nicht hilft.
Der Rollstuhl stand immer neben meinem Bett und sobald ich ins Bad oder aus dem Zimmer wollte, musste mir hinein geholfen werden. Ich habe diesen Rollstuhl gehasst und mich geweigert, zu lernen, wie ich selber damit fahren kann. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nahezu täglich Krankengymnastik. Diese Stunden waren mir von allen Reha-Stunden die liebsten, weil ich wie verrückt trainiert habe, um bald wieder selber gehen zu können. Das Schädel-Hirn-Trauma verursachte unter anderem immense Wortfindungsstörungen und hatte nahezu mein gesamtes Mathe-Gedächtnis ausgelöscht. Ich hatte mit 23 Jahren das kleine Einmaleins und die einfachsten Rechen-Operationen neu zu erlernen.
Außerdem sah ich partout nicht ein, warum ich im Krankenhaus bleiben musste, weil ich mich doch schon wieder ganz gesund fühlte. Und laufen konnte ich auch daheim lernen, genau wie rechnen und ohne Wortfindungsstörungen sprechen. Da der Teil meines Gehirns, der die Emotionen beherbergt, beim Unfall zerstört wurde, konnte ich lange Zeit nichts empfinden. Es war mir ganz egal, wo ich war, warum ich da war und wer dabei war. Hauptsache, es war jemand bei mir, den ich kannte. Lebendige Freude und echte Trauer brauchten nahezu zwei Jahre, um wieder aktiviert zu werden. Weinen konnte ich bis Anfang 2004 nicht. Aber auch jetzt noch sind die Grenzen, bis Tränen kullern, viel weiter gesteckt als noch vor dem Unfall. Ich suchte mir andere Ventile für emotionale Erlebnisse, wurde in Situationen, in denen ich normalerweise geweint hätte, furchtbar aggressiv. Aber noch befand ich mich in den Händen der Ärzten.
Am 31. August 1999 feierte ich meinen 23. Geburtstag und zur Feier des Tages durften meine Eltern mich mit Rollstuhl für ein paar Stunden mit in meine Münchner Wohnung nehmen. Mir wurde klar, wie dringend es war, wieder laufen zu können, da ich ansonsten wieder nach Rheda-Wiedenbrück in die rollstuhlgerechte Wohnung meiner Mutter hätte ziehen müssen. Die Ärzte hatten die ersten 2,5 Wochen sowieso gemeint, es sei durchaus wahrscheinlich, dass ich sowohl geistig als auch körperlich behindert bleiben würde. Nach gut einem Monat konnte ich endlich wieder laufen, allerdings benötigte ich anfangs noch Krücken und für mittlerweile erlaubte Spaziergänge eine Gehhilfe in Form eines Rollators (das ist dieses Gerät, das alte Damen vor sich herschieben). Es war mir unglaublich unangenehm, als meine Mutter, mein Freund und ich eines Tages für ein paar Stunden aus dem Krankenhaus raus durften und im Ostpark spazieren gingen. Ich musste dieses Oma-Gerät vor mir herschieben und dabei war ich doch noch sooo jung....
Derweil trainierte eine Ergotherapeutin täglich mit mir alle möglichen Dinge, die mir die Rückkehr in die normale Welt ermöglichen sollten. Als nach fünf, sechs Wochen klar war, dass eine stationäre Behandlung bald nicht mehr nötig sein würde, da ich sowohl wieder einigermaßen selbständig gehen konnte als auch den Anschein machte, in der Wohnung, die ich mir mit meinem Freund teilte, klar zu kommen, unternahm sie mit mir zwei Exkursionen zu meiner Wohnung. Dabei achtete sie auf mein Verhalten im Straßenverkehr und mein Orientierungsbewusstsein. Endlich kam der Tag, an dem ich heim durfte. Es gab allerdings einige Voraussetzungen:
- 1. Ich sollte nicht alleine kochen (Verbrühungsgefahr)
- 2. jeden Tag hatte ich in der Tagklinik des Klinikums zu weiteren Stunden (Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie, Krankengymnastik) zu erscheinen
- 3. ich hatte ein Kopfschmerz-Tagebuch zu führen, da ich aufgrund meiner immensen Kopfverletzungen anfangs unter häufigen, starken und kaum zu behebenden Kopfschmerzen litt
- 4. Anfangs sollte ich mit meinem Freund die Teilnahme am Straßenverkehr trainieren, damit ich sicherer wurde
lapin76 - 6. Jul, 18:22