Mittwoch, 6. Juli 2005

Ein Stück Geschichte, Anja pur

Bis zu meinem 23. Lebensjahr lebte ich in meiner Geburtsstadt Rheda-Wiedenbrück. 1996 machte ich in Wiedenbrück am Ratsgymnasium mein Abitur, Durchschnittsnote 2,0. Im selben Jahr begann meine Ausbildung zur Verlagskauffrau bei der Bertelsmann AG in Gütersloh. Zum Ende meiner Ausbildung startete ich am 01.01.1999 als Anzeigenverkäuferin in einem Fachzeitschriftenverlag in München. Am 01.07. endete meine Probezeit.
Einen Monat später - am 01.08.1999 - war ich mit dem Rad auf dem Weg zu einem Badesee (Feringasee) in München. In einem Gebiet, wo per Hinweisschild auf die Schleudergefahr hingewiesen wird, fuhr ein Auto statt erlaubter 60 km/h mit überhöhter Geschwindigkeit (130-160 km/h) in die gleiche Fahrtrichtung, geriet ins Schleudern und schleuderte über die Gegenfahrbahn und den angrenzenden Grünstreifen auf den Radweg. Es erfasste mich mit 70 km/h.
Soweit ist es im Polizeibericht festgehalten. Erinnern kann ich mich nicht, weder an den Tag noch an die folgenden 30 Tage. Ich wurde mit dem Krankenwagen ins städtische Krankenhaus Bogenhausen gebracht, wo sie als erstes den Bruch meines rechten Oberschenkels mit einem ca. 30 cm-langen Titan-Nagel versorgten. Die übrigen Brüche (Schädel-Basis-Bruch mit Schädel-Hirn-Trauma, Stirnhöhlen- und Oberkiefer-Bruch, Schulterblattbruch rechts, drei Wirbel-Brüche, zwei Rippenfrakturen) wurden nicht weiter behandelt, fürs Erste. In der Nacht mussten sie allerdings meine Schädeldecke aufmachen, um ein subdurales Hämatom zwischen Gehirn und Schädeldecke zu entfernen. Ich wurde für ungefähr zwei Wochen in ein künstliches Koma versetzt und künstlich beatmet. Die Beatmung lähmte meine Stimmbänder und verletzte meinen Glutti-Schluss, so dass ich danach erst nur flüstern konnte und nicht trinken durfte, weil ich Flüssigkeit in die Lunge geschluckt habe.
Wie schon erwähnt, kann ich mich an die ersten 30 Tage nach dem Unfall nur Bruchstückhaft erinnern, weswegen ich auch keine Erinnerung an Schmerzen habe. Ich weiß viele Dinge nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die sofort aus meiner Heimatstadt Rheda-Wiedenbrück angereist waren und sich abwechselnd bei mir in München aufgehalten haben. So wurde mir berichtet, dass ich nicht einsehen wollte, dass ich nicht laufen kann. Ich habe ständig versucht zu „fliehen“, bin über das Schutzgitter meines Bettes geklettert und wollte gehen. Bei diesen Versuchen habe ich mich ein ums andere Mal auf die Nase gelegt und jedes Mal lauthals geflucht, warum die anwesende Person (meine Betreuung wurde zwischen meinen Eltern, meinem Bruder, der besten Freundin, dem Freund aufgeteilt, so dass jeder auch mal Zeit für Entspannung hatte) mir nicht hilft.
Der Rollstuhl stand immer neben meinem Bett und sobald ich ins Bad oder aus dem Zimmer wollte, musste mir hinein geholfen werden. Ich habe diesen Rollstuhl gehasst und mich geweigert, zu lernen, wie ich selber damit fahren kann. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nahezu täglich Krankengymnastik. Diese Stunden waren mir von allen Reha-Stunden die liebsten, weil ich wie verrückt trainiert habe, um bald wieder selber gehen zu können. Das Schädel-Hirn-Trauma verursachte unter anderem immense Wortfindungsstörungen und hatte nahezu mein gesamtes Mathe-Gedächtnis ausgelöscht. Ich hatte mit 23 Jahren das kleine Einmaleins und die einfachsten Rechen-Operationen neu zu erlernen.
Außerdem sah ich partout nicht ein, warum ich im Krankenhaus bleiben musste, weil ich mich doch schon wieder ganz gesund fühlte. Und laufen konnte ich auch daheim lernen, genau wie rechnen und ohne Wortfindungsstörungen sprechen. Da der Teil meines Gehirns, der die Emotionen beherbergt, beim Unfall zerstört wurde, konnte ich lange Zeit nichts empfinden. Es war mir ganz egal, wo ich war, warum ich da war und wer dabei war. Hauptsache, es war jemand bei mir, den ich kannte. Lebendige Freude und echte Trauer brauchten nahezu zwei Jahre, um wieder aktiviert zu werden. Weinen konnte ich bis Anfang 2004 nicht. Aber auch jetzt noch sind die Grenzen, bis Tränen kullern, viel weiter gesteckt als noch vor dem Unfall. Ich suchte mir andere Ventile für emotionale Erlebnisse, wurde in Situationen, in denen ich normalerweise geweint hätte, furchtbar aggressiv. Aber noch befand ich mich in den Händen der Ärzten.
Am 31. August 1999 feierte ich meinen 23. Geburtstag und zur Feier des Tages durften meine Eltern mich mit Rollstuhl für ein paar Stunden mit in meine Münchner Wohnung nehmen. Mir wurde klar, wie dringend es war, wieder laufen zu können, da ich ansonsten wieder nach Rheda-Wiedenbrück in die rollstuhlgerechte Wohnung meiner Mutter hätte ziehen müssen. Die Ärzte hatten die ersten 2,5 Wochen sowieso gemeint, es sei durchaus wahrscheinlich, dass ich sowohl geistig als auch körperlich behindert bleiben würde. Nach gut einem Monat konnte ich endlich wieder laufen, allerdings benötigte ich anfangs noch Krücken und für mittlerweile erlaubte Spaziergänge eine Gehhilfe in Form eines Rollators (das ist dieses Gerät, das alte Damen vor sich herschieben). Es war mir unglaublich unangenehm, als meine Mutter, mein Freund und ich eines Tages für ein paar Stunden aus dem Krankenhaus raus durften und im Ostpark spazieren gingen. Ich musste dieses Oma-Gerät vor mir herschieben und dabei war ich doch noch sooo jung....
Derweil trainierte eine Ergotherapeutin täglich mit mir alle möglichen Dinge, die mir die Rückkehr in die normale Welt ermöglichen sollten. Als nach fünf, sechs Wochen klar war, dass eine stationäre Behandlung bald nicht mehr nötig sein würde, da ich sowohl wieder einigermaßen selbständig gehen konnte als auch den Anschein machte, in der Wohnung, die ich mir mit meinem Freund teilte, klar zu kommen, unternahm sie mit mir zwei Exkursionen zu meiner Wohnung. Dabei achtete sie auf mein Verhalten im Straßenverkehr und mein Orientierungsbewusstsein. Endlich kam der Tag, an dem ich heim durfte. Es gab allerdings einige Voraussetzungen:
  1. 1. Ich sollte nicht alleine kochen (Verbrühungsgefahr)
  2. 2. jeden Tag hatte ich in der Tagklinik des Klinikums zu weiteren Stunden (Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie, Krankengymnastik) zu erscheinen
  3. 3. ich hatte ein Kopfschmerz-Tagebuch zu führen, da ich aufgrund meiner immensen Kopfverletzungen anfangs unter häufigen, starken und kaum zu behebenden Kopfschmerzen litt
  4. 4. Anfangs sollte ich mit meinem Freund die Teilnahme am Straßenverkehr trainieren, damit ich sicherer wurde

Wieder daheim

Am 23. September war ich wieder daheim, in der gemeinsamen Wohnung, die ich so sehr vermisst hatte. Bald fand das Oktoberfest statt, das ich an sich nicht verpassen wollte. Doch traute ich mir noch nicht zu, in der U-Bahn, die immer überfüllt war, zu stehen. Somit musste ich verzichten. Auch war mir untersagt, die Muskeln meines Beines zu sehr zu trainieren, denn der Titan-Nagel sollte nach 1,5 Jahren entfernt werden und da wären zu viele Muskeln störend gewesen. Also sehnte ich den Tag herbei, an dem ich vom Nagel befreit wurde. Das geschah Februar/März 2001. Bis dahin war ich auch im Job wieder „re-sozialisiert“, arbeitete täglich fast acht Stunden und musste nur noch 1x pro Monat in der Tagklinik erscheinen, um von meinem Alltag zu berichten. Als der mein „Ersatzteillager“ endlich geräumt war – mein Körper nach anderthalb Jahren also endlich Titan-frei leben durfte – hatte ich noch 2 Wochen Sportverbot. Aber am 01.05.2001 begann mein sportlicher Neuanfang. An diesem Morgen startete ich das Unterfangen „Rollstuhl- und Klinikspeck-Bekämpfung“. Ich begann, jeden Morgen vor der Arbeit eine halbe Stunde zu laufen. Anfangs ganz langsam, denn Kondition und Muskelapparat hatten natürlich sehr gelitten. Am Wochenende hatte ich oft Muße, 45 oder sogar 60 Minuten zu laufen. Es stellten sich sehr schnell Fortschritte ein, ich verlor ein wenig Fett und auch Gewicht, alles wurde endlich wieder fester und ansehnlicher. Im Job war ich von meinem Job als Anzeigenverkäuferin aufgrund des mangelnden Selbstbewußtseins – welches ganz normal ist, wenn man plötzlich voll aus dem Leben gerissen wird und bei 0 wieder anfangen muss – in die Sachbearbeitung versetzt, wo ich nicht unter so großem Leistungsdruck stand. Bald jedoch merkte ich, dass mich dieser Job unterfordert, geistig. Das konnte nicht alles gewesen sein. Als ich jedoch meinem Neuropsychologen in der Tagklinik von meinem Entschluss, studieren zu gehen, berichtete, wurde mir geraten, das zu vergessen, da ich aufgrund der Kopfverletzungen nicht in der Lage sei, mir dauerhaft etwas zu merken bzw. mich lange zu konzentrieren. Ich ließ mich aber nicht beirren, denn der Job in der Sachbearbeitung der Anzeigenabteilung war in meinen Augen eine Sackgasse. Und wenn ich schon ganz von vorne anfangen musste, konnte ich ja auch wieder zur „Schule“ gehen. Also bewarb ich mich um einen Studienplatz an der LMU München für den Magisterstudiengang „Kommunikationswissenschaft“ mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie. Dank meiner Wartesemester bekam ich einen Platz, und ganz entgegen der Bedenken der Ärzte studiere ich seitdem mit Erfolg und werde spätestens 2006 das Studium beenden.
Noch vor Beginn des Studium hatte ich das Gefühl, dass ich bezüglich des Laufens ein Ziel brauchte. Und so entstand die vorerst fixe Idee, auf einen Marathon zu trainieren. Niemand, der meine Geschichte kannte, wollte daran glauben. Ich tat es, ansonsten hätte mich bald die Lust zu laufen verlassen. Schon 2003 trainierte ich seit dem Frühjahr für den Marathon, wurde dennoch von einer dreiwöchigen Krankheit aus dem Konzept gebracht und verwarf den Plan. Ich fuhr allerdings nach Berlin, wo der Freund meiner Mutter am Marathon teilnahm, schaute zu und habe gefühlt, dass ich ebenfalls auf die Straße gehörte. Anfang 2004 stand es fest, dass ich es in diesem Jahr packen musste. Also meldete ich mich im April an und informierte sofort sämtliche Freunde und Bekannte von meinem Vorhaben und bat um ihre Unterstützung. Somit war mir – da ich ein sehr stolzer Mensch bin – jede Rückzugmöglichkeit genommen. Ich habe mich selber ausgetrickst und das war gut so. Ich begann sofort, wie eine Verrückte zu trainieren, lief nahezu jeden Tag und musste bald feststellen, dass das zuviel des Guten war. Ich bekam immense Knieprobleme, mit denen ich bei meiner Sportmedizinerin vorstellig wurde. Sie schickte mich zum Orthopäden, der anhand einer Kernspintomographie eine beginnende Arthrose diagnostizierte und mir vom Marathon abriet. Schnell sah er allerdings ein, dass er gegen meinen Willen wenig ausrichten konnte. Dieser Marathon war mein Herzenswunsch, der auch in meiner Zeit im Rollstuhl begründet lag. Ich bekam für jedes Knie eine Bandage, die ich bei jedem Lauf über zwei Stunden tragen sollte. Nebenbei trainierte ich wöchentlich den restlichen Muskelapparat im Fitnessstudio, in dem ich auch neben dem Studium mein Geld als Servicekraft verdiene. Ich musste mein Training ein wenig zurückschrauben, was mir nicht leicht fiel. Allerdings nahm sich ein guter Freund, Richy, selber 10facher Marathonläufer, meiner an und stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Er begleitete meinen längsten, 32,5 km langen Vorbereitungslauf mit dem Rad und ließ mir mit seinem fortwährenden Redeschwall keine Chance, über irgendwelche körperlichen Beschwerden nachzudenken. 3 Wochen vor dem Marathon der große Schock: mich suchte eine Grippe heim, weil ich zuviel trainiert hatte und mir zu wenig Zeit zur Erholung ließ. Ich sehnte den Tag des Marathons herbei. Meine Ärztin, die auch die besagte Sportmedizinerin ist, wußte von meinen Marathonplänen und behandelte die Grippe mit einem milden Antibiotika. Ich bewies echte Selbstdisziplin und verordnete mir soviel Ruhe, wie ich mir seit Jahren nicht gegönnt hatte, aus lauter Angst, das Ziel Marathon, auf das ich mich mehr als ein halbes Jahr intensiv vorbereitet hatte, nicht erreichen zu können. Eine Woche vor dem großen Lauf konnte ich mit einem ersten Seniorenlauf wieder einsteigen. Und – oh Schreck – ich war aus dem Tritt, hatte keinen Spaß mehr am Laufen und quälte mich eine Stunde durch den Ostpark. Ich verabschiedete mich von meinem Plan, die 42,195 km in 4,5 Stunden zu laufen. Mein Coach war zwar immer noch der Meinung, ich sei fit genug für eine besssere Zeit, doch glauben konnte ich das nicht. Für den Marathon war meine Mutter aus Wiedenbrück eingeflogen, um mich seelisch zu unterstützen. Auch mein damaliger Freund, von dem ich zwar seit 1,5 Jahren getrennt bin, mit dem ich aber noch zusammen wohne, unterstützte mich. Zu meinem Geburtstag hatte meine Familie mir zwei neue Laufhosen und jede Menge Sportlernahrung (Riegel und Kohlenhydrat-Gel und –Pulver) geschenkt. Sämtliche Freunde und Kollegen vom Fitnessstudio und meiner Praktikumsstelle, ob in München oder anderswo, standen hinter mir und signalisierten mir schon im Vorfeld, dass sie Achtung vor dieser Leistung haben. Die Woche vor dem Tag X leerte ich drei Tage lang meine Kohlenhydratspeicher, um sie drei Tage vor dem Lauf wieder aufzufüllen. Am Abend vorher veranstaltete mein Coach Richy eine Nudelparty für meine Mom, meinen Mitbewohner und mich. Am Marathontag holte er uns (Mom und mich) um kurz nach acht ab. Ich war erstaunlich ruhig. Ich fühlte, dass ich es schaffen würde, weil ich es wollte. Und so war es. Nach 5 km bemerkte ich, dass ich den rechten Schuh zu fest geschnürt hatte. Nach 16 km bekam ich richtige Schmerzen am Spann, lockerte den Schuh etwas, doch diese Maßnahme kam zu spät. Doch ich sagte mir, dass mich das nicht aufhalten würde. Ich redete mir einfach ein, mich alle zehn Kilometer entscheiden zu können, ob ich weiterlaufen wollte oder nicht. Und das tat ich, ich entschied mich jede Stunde neu, die nächsten Kilometer noch mitzunehmen. Schließlich hatte ich ja bezahlt, und das Startgeld ist für einen Studentin nicht unbedingt erschwinglich. Mein Anhang (Mutter, Mitbewohner, Praktikums-Chefin und –Kollegen, Elixia-Mitglieder, Freunde) überraschten mich an allen möglichen Stellen mit ihrer Anwesenheit und gaben mir ständig neuen Auftrieb. Mein lieber Coach begleitete mich überall wo es ging mit dem Rad und gab mir ständig ein Elektolyt-Getränk, einen Riegel oder Magnesium. Bei km 27 kamen Rückenschmerzen dazu und ich beschloss, mich nur noch auf die Körperteile zu konzentrieren, die noch nicht weh taten. Ich freute mich jedes Mal darüber, wie viele das noch waren. Kurz vor km 39 dachte ich mir, dass die Schmerzen in den Füßen und im Rücken auch nicht schlimmer würden, wenn ich schneller laufen würde. Und so gab ich Gas. Als wir bei km 40 in den Olympiapark einbogen, überholte ich viele Läufer, die gehen musste. Und ich konnte noch ein wenig Tempo drauflegen. Ich fing an zu lachen, freute mich, es bald hinter mir zu haben, genoß es, von den Zuschauern angefeuert zu werden. Die letzten 500 m läuft man im Spalier und ich fühlte mich toll, war nur am grinsen. Nach dem großen Marathontor läuft man ins Olympiastadion ein. Dann sind es noch 300 m bis ins Ziel. Und ich rannte los und legte einen Endspurt ein. Im Ziel konnte ich nicht glauben, was ich sah: ich hatte nur 4:12 Stunden gebraucht und war der glücklichste Mensch der Welt. Ich liebte alles, hätte jeden Menschen umarmen können.
Die Erfahrung des Marathons ist einzigartig. Und es wird nicht mein letzter gewesen sein. Denn ich habe gelernt, dass alles eine reine Kopfsache ist. Zu 70% läuft man einen Marathon mit dem Kopf. Du musst an dich glauben, dann hat dein Körper keine Chance mehr. Meine Knie sagen seitdem nichts mehr. Keine Schmerzen, nur leichter Muskelkater in den Oberschenkeln. Dieser Lauf hat mir bewiesen, dass jedermann in der Lage ist, alles zu erreichen, was er erreichen will. Er muss nur an sich glauben und hinter seiner Entscheidung stehen. Die Endorphin-Ausschüttung nach einem Marathon entschädigt für alles, was man vorher an Einschränkungen hin nehmen musste, um das Ziel Marathon nicht zu gefährden.

Der Marathon

Nach 5 km bemerkte ich, dass ich den rechten Schuh zu fest geschnürt hatte. Nach 16 km bekam ich richtige Schmerzen am Spann, lockerte den Schuh etwas, doch diese Maßnahme kam zu spät. Doch ich sagte mir, dass mich das nicht aufhalten würde. Ich redete mir einfach ein, mich alle zehn Kilometer entscheiden zu können, ob ich weiterlaufen wollte oder nicht. Und das tat ich, ich entschied mich jede Stunde neu, die nächsten Kilometer noch mitzunehmen. Schließlich hatte ich ja bezahlt, und das Startgeld ist für einen Studentin nicht unbedingt erschwinglich. Mein Anhang (Mutter, Mitbewohner, Praktikums-Chefin und –Kollegen, Elixia-Mitglieder, Freunde) überraschten mich an allen möglichen Stellen mit ihrer Anwesenheit und gaben mir ständig neuen Auftrieb. Mein lieber Coach begleitete mich überall wo es ging mit dem Rad und gab mir ständig ein Elektolyt-Getränk, einen Riegel oder Magnesium. Bei km 27 kamen Rückenschmerzen dazu und ich beschloss, mich nur noch auf die Körperteile zu konzentrieren, die noch nicht weh taten. Ich freute mich jedes Mal darüber, wie viele das noch waren. Kurz vor km 39 dachte ich mir, dass die Schmerzen in den Füßen und im Rücken auch nicht schlimmer würden, wenn ich schneller laufen würde. Und so gab ich Gas. Als wir bei km 40 in den Olympiapark einbogen, überholte ich viele Läufer, die gehen musste. Und ich konnte noch ein wenig Tempo drauflegen. Ich fing an zu lachen, freute mich, es bald hinter mir zu haben, genoß es, von den Zuschauern angefeuert zu werden. Die letzten 500 m läuft man im Spalier und ich fühlte mich toll, war nur am grinsen. Nach dem großen Marathontor läuft man ins Olympiastadion ein. Dann sind es noch 300 m bis ins Ziel. Und ich rannte los und legte einen Endspurt ein. Im Ziel konnte ich nicht glauben, was ich sah: ich hatte nur 4:12 Stunden gebraucht und war der glücklichste Mensch der Welt. Ich liebte alles, hätte jeden Menschen umarmen können.
Die Erfahrung des Marathons ist einzigartig. Und es wird nicht mein letzter gewesen sein. Denn ich habe gelernt, dass alles eine reine Kopfsache ist. Zu 70% läuft man einen Marathon mit dem Kopf. Du musst an dich glauben, dann hat dein Körper keine Chance mehr. Meine Knie sagen seitdem nichts mehr. Keine Schmerzen, nur leichter Muskelkater in den Oberschenkeln. Dieser Lauf hat mir bewiesen, dass jedermann in der Lage ist, alles zu erreichen, was er erreichen will. Er muss nur an sich glauben und hinter seiner Entscheidung stehen. Die Endorphin-Ausschüttung nach einem Marathon entschädigt für alles, was man vorher an Einschränkungen hin nehmen musste, um das Ziel Marathon nicht zu gefährden.

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